"Das ist wie russisches Roulette"
Sie kennt den Mount Everest aus eigener Erfahrung: Die deutsche Extrembergsteigerin Heidi Sand stand 2012 auf dem höchsten Gipfel der Welt - weniger als zwei Jahre nach ihrer Krebserkrankung. Mit n-tv.de spricht sie über die Gefahren am Berg, den neuen Film "Everest 3D" und das Glück in der Todeszone.
n-tv.de: Sie waren 2012 auf dem Gipfel des Mount Everest. Wie haben Sie den Berg erlebt?
Heidi Sand: Im Film wird natürlich das Drama wiedergegeben. Es ist auch einfach schrecklich, was da 1996 passiert ist. Bergunfälle sind immer furchtbar. Aber das ist nicht das eigentliche Bergsteigen. Nach einer solchen Katastrophe schrecken viele zurück und fragen, warum sich Menschen freiwillig in die Todeszone begeben, freiwillig so viel Geld zahlen, freiwillig sechs Wochen lang ohne jeglichen Komfort leben. Wir hatten jedoch eine reibungslose Besteigung: Wir haben den Everest so erleben dürfen, dass es richtig Spaß macht, auf diesen Berg zu steigen. Mir hat es sogar so viel Spaß gemacht, dass ich gleich im Jahr darauf wieder losgezogen bin, diesmal zum Cho Oyu (Anm. 8188 Meter), ohne Sauerstoff. Und im Jahr darauf zum Makalu (8485 Meter), weil man den vom Everest aus schon so schön sehen kann. Ich habe am Everest das eigentliche Bergsteigen erleben dürfen.
Ihre Geschichte klingt unglaublich, ist aber wahr: Zwei Jahre nach der Diagnose Darmkrebs standen Sie auf dem höchsten Berg der Welt. Wie war das möglich?
Das Bergsteigen hat mir geholfen, meine Krankheit zu überwinden. Wegen der Chemotherapie war ich sechs Monate lang außer Gefecht gesetzt. Ich musste kämpfen. Es lag sechs Monate lang im Ungewissen, ob die Geschichte überhaupt gut ausgeht, ob ich die Sache überhaupt überlebe. Im Krankenhaus ist mir recht schnell klargeworden, dass ich wieder ein Ziel brauche. Ich suchte etwas, für das es sich lohnt, das hier zu ... zu kämpfen. Ich brauchte etwas, mit dem ich mich belohnen konnte.
Wieso ausgerechnet der Mount Everest?
Ich war schon immer am Berg. Ich war schon von klein auf in den Bergen. Ich komme aus einer Bergsteigerfamilie, ich wurde also sozusagen von einem gewissen Bergsteiger-Gen geprägt. 2010 war ich noch auf dem Mount McKinley. Kurz danach bin ich krank geworden.
Wie kam es zu der Entscheidung, auf den höchsten Berg zu steigen?
In den Chemotherapiesitzungen ist dieser Traum in mir entstanden: Ich will auf einem Achttausender stehen. So habe ich das dann im Familienkreis beim Abendessen gesagt, und dann war es letztlich mein ältester Sohn, der meinte: Mama, wenn schon unbedingt auf einen Achttausender, dann mach' doch gleich den Everest. Den kennt jeder, und er ist auch der Höchste. Meine Familie hoffte vielleicht auch, dass es mit dem Höhenbergsteigen vorbei ist, wenn ich gleich auf den höchsten Gipfel der Welt steige.
Wann genau haben Sie mit den Vorbereitungen begonnen?
Mit dem neuen Ziel vor Augen war ich auf Höchstleistung. Ich habe bereits während der Chemotherapie angefangen, wieder leicht zu trainieren. Ich war vollkommen fokussiert auf dieses Bergprojekt. Ich habe alles, was ich finden konnte, über den Everest gelesen. Ich habe mich auch damit auseinandergesetzt, ob das, was ich vorhabe, überhaupt realistisch ist. Ich habe mich gefragt, ob ich dazu wieder fähig bin: zu dieser Ausdauerleistung, und dazu, meinem Körper diese Strapazen anzutun.
Der Mount Everest ist keine kleine Herausforderung - und alles andere als ungefährlich. Was macht für Sie die Faszination Everest aus?
Je mehr ich mich in das Thema vertieft habe, desto mehr habe ich diesen Berg, diese Riesengestalt, lieben gelernt. Ich wollte mich in diesen Mythos Everest hineinbegeben und die Geschichten nacherleben, die sich dort abgespielt haben. Was hat es dort schon für Dramen gegeben! Zum Beispiel ist es noch immer ungewiss, ob Mallory (Anm. George Mallory, britische Expedition von 1924) der Erste auf dem Gipfel war oder nicht. Und dann gibt es natürlich diese Faszination, in eine Höhe zu steigen, bis es nicht mehr höher geht - eine Höhe, die die meisten Menschen sonst nur vom Flugzeug aus erleben können. Von dort oben herunterzuschauen, aus der Vogelperspektive, das ist einfach überwältigend.
Welche Fähigkeiten braucht man, um es bis auf den Gipfel zu schaffen?
Man muss körperlich absolut topfit sein. Das bedeutet sehr viel Ausdauertraining, ganz klar. Und man muss sich quälen können bis ans Ende seiner Kraft. Um es bis auf den Gipfel zu schaffen, muss man körperlich absolut austrainiert sein. Ich bin davor Marathon gelaufen, habe Klettertraining gemacht und habe in allen Bereichen versucht, körperlich so fit zu sein wie noch nie in meinem Leben zuvor. Das andere ist das Mentale. Die mentale Vorbereitung macht einen großen Anteil an solchen Expeditionen aus. Schließlich ist man nicht einfach nur ein paar Wochen im Urlaub. Man lebt in dieser Zeit in einer Zeltstadt auf dem Schuttgeröll der Gletschermoräne im Basislager. Dort ist es immer kalt, man schläft schlecht. Dazu kommt die Höhe. Viele Expeditionsteilnehmer leiden außerdem unter Durchfall. Dieses Lagerleben, diesen Lagerkoller: Man bekommt Unfälle mit, man bekommt Todesfälle mit. Du wirst Zeuge, wie Leute, die der Situation nicht gewachsen sind, fast durchdrehen. Und dann muss man sich bei den Vorbereitungen auf den Gipfel auch immer sagen: Ich muss noch so klar bei Sinnen sein, dass ich umdrehe, wenn das Wetter schlecht wird, oder wenn ich merke, dass ich mich schlecht fühle. Man braucht wirklich sehr viel Disziplin, um rechtzeitig umzudrehen.
Der Weg auf den Gipfel und zurück ist lang. Was war Ihrer Einschätzung nach der schwierigste Moment?
Der gefährlichste Bereich liegt unten auf der Passage, die vom Basislager zum Lager I durch den Khumbu-Eisfall führt. Nie im Leben würden Bergsteiger durch diesen gefährlichen, sich ständig in Bewegung befindlichen Eisgletscher gehen, wäre der Everest nicht der höchste Berg der Welt. Das ist wirklich unheimlich und gefährlich dort. Man kann überhaupt nichts machen: Das ist wie russisches Roulette. Entweder, du hast Glück und kommst da heil durch, oder es trifft dich. Rein klettertechnisch ist die einzig relativ schwierige Stelle am ganzen Berg der Hillary Step. Da muss man einfach kurz hinaufklettern und oft auch anstehen. Auf normaler Höhe wäre das für Sie vielleicht ein interessantes Sonntagnachmittagproblem in der Boulderhalle. Aber in dieser Höhe mit dicken Daunenhandschuhen und dicken Expeditionsstiefeln, mit denen man eh ziemlich klumsig daherkommt, ist das durchaus eine schwierige Schlüsselstelle. Deshalb staut es sich da ja immer. Und dort kann man auch immer sehen, wie viel Erfahrungen die Leute wirklich mitbringen.
Ab wann wussten Sie, dass Sie es tatsächlich schaffen?
Ich war sehr, sehr skeptisch. Schließlich hatte ich meiner Familie und allen Freunden versprochen, dass ich in jedem Fall wieder zurückkomme, ob nun mit Gipfel oder ohne. Ich wusste ja vom Bergsteigen, dass bis zum Schluss etwas passieren oder dazwischen kommen kann. Deshalb war ich schon sehr dankbar, dass bis zum Lager IV alles gut geklappt hat. Trotzdem war ich mir nicht sicher, ob ich damit den Gipfel schon in der Tasche habe. Erst nach dem Hillary Step, auf den letzten Metern am Gipfelgrad, da habe ich zum ersten Mal realisiert, dass es jetzt etwas wird mit dem Gipfel. Dann kamen unweigerlich das Adrenalin und die Endorphine. Auf den letzten Metern musste ich weinen. Ich war einfach unglaublich dankbar dafür, dass alles geklappt hat. Und, dass ich das Glück hatte - es waren anderthalb Jahre nach meiner Krebserkrankung - den Gipfel des Everest nach dem bisher tiefsten Tief meines Lebens zu erreichen.
Was haben Sie in diesen Momenten gefühlt?
Mir fährt es jetzt noch ganz kalt den Rücken runter. Ich konnte in den Wochen danach erst gar nicht von den letzten Metern erzählen, ohne dass ich weinen musste. Selbst jetzt wirkt das noch. Ja, es war so unglaublich schön.
Wie lange haben Sie gebraucht?
Wir waren ein bisschen zu schnell. Ich war um vier Uhr morgens auf dem Gipfel. Wir hatten uns ein bisschen verschätzt und waren dann eben nur zu viert auf dem Gipfel. Wir wollten eigentlich um halb fünf oben ankommen, wenn die aufgehende Sonne den Gipfel erreicht. Dafür waren die Sterne zum Greifen nahe. Vor unseren Augen ging dann die Sonne auf, rund um uns herum wurde es heller, wir konnten die Erdkrümmung sehen. Es ist so faszinierend, mir fehlen da auch heute noch die Worte. Es ist der Wahnsinn, was man dann da oben fühlt. Einerseits diese unglaubliche Dankbarkeit, andererseits war es für mich auch eine Ehre, dass der Berg es zulässt, dass ich da hoch durfte.
Mit welchen Gefühlen haben Sie sich "Everest 3D" angesehen?
Ich war sehr gespannt, weil es ja schon sehr viele gute Filme über das Bergsteigen am Everest gibt. Mir war auch klar: Es ist ein Spielfilm, keine Dokumentation. Solche Bergerlebnisse zu verfilmen … das bleibt zwangsläufig immer eine Story, ganz klar. Sehr neugierig war ich auf den 3D-Effekt. Und das ist im Film wirklich gelungen: Es wirkt, als liefe man selbst durch den Eisfall, als stünde man selbst oben. Das ist, meine ich, richtig gut gelungen. Das geht unter die Haut.
Aus der Sicht einer Höhenbergsteigerin: Wo liegen die Stärken des Films, wo die Schwächen?
Die 3D-Effekte finde ich einfach faszinierend. Schon der Weg durch das Khumbu-Tal bis zum Base Camp - das kommt richtig gut rüber. Sehr gut gemacht ist auch, wie schnell es geht, wenn ein Sturm aufzieht. Das kommt dort unheimlich schnell hoch. Das ist gut dargestellt. Es ist durchweg eine gute Darstellung. Es ist ja ein Film, der Unterhaltung bietet, und keine Dokumentation.
Ist "Everest 3D" ein Bergfilm, der nur für Bergsteiger interessant ist?
Es ist ein Spielfilm über Bergsteiger.
Der Andrang kommerzieller Expeditionen am Mount Everest ist nicht unumstritten. Wie haben Sie die Situation vor Ort erlebt?
Mit dem Everest lässt sich richtig viel Geld verdienen. Aber so ist der Mensch, so ist der Lauf der Dinge. Jeder, der dort hingeht, hat seine eigene Motivation, hat seine eigene Geschichte. Man kann das nicht weiter reglementieren. Es ist einfach die freie Entscheidung jedes Einzelnen. Natürlich ist dort viel los. Zu den besten Zeiten sind bis zu 1000 Menschen im Base Camp. Ich finde, jeder hat die Freiheit dort hinzugehen. Dass daraus ein Geschäft entstanden ist? Klar, so sind die Menschen.
Und die Rolle der einheimischen Träger, Helfer und Bergführer?
Die Sherpas? Ich habe nie eine Situation mitbekommen, in der Expeditionsteilnehmer ein schlechtes Verhältnis hatten zu den Sherpas. Ich habe heute noch Kontakt mit allen, die bei uns dabei waren. Die meisten waren beim Makalu auch wieder dabei. Es ist rundum ein gutes Verhältnis. Die Welt hält sich halt immer gerne an den schlechten Sachen auf. Aber das ist wirklich nur ein Bruchteil. Bei den meisten ist das Verhältnis gut.
Wie sieht es mit der Müllproblematik aus am Berg?
Es ist natürlich viel los am Everest, aber wenn Sie die Situation mit der Lage am Matterhorn oder am Mont Blanc vergleichen, ist das nicht ungewöhnlich. Der Mount Everest hat nur leider das Schicksal, dass er der Höchste ist. Müll? Das war früher, das gibt es seit Jahren nicht mehr. Das Base Camp und oben die Lager sind sauberer als hier mancher Rasthof an der Autobahn. Es gibt seit Jahren strenge Auflagen. Jede Expedition muss genau so viel Müll wieder mit runter tragen, wie sie Material hinauf gebracht haben. Das wird pro Person genau ausgerechnet. Zusatzmüll wird den Sherpas extra bezahlt. Es ist wirklich absolut sauber.
Das Unglück von 1996 wirkt im Nachhinein wie der Auftakt zu weit schlimmeren Katastrophen. 2014 starben in einer einzigen Lawine 16 Sherpas. Im Frühjahr erschütterte das großen Erdbeben die gesamte Region. Wie wird, wie kann es am Everest weitergehen?
Es gab Überlegungen, dass man im Khumbu-Eisfall komplett gar nichts mehr macht, keine Leitern mehr legt und nichts. Der Vorschlag kam, glaube ich, von Reinhold Messer. Das kann man natürlich machen. Die Frage ist nur, wem man damit einen Gefallen tut. Würden wir hier etwa in den Alpen plötzlich das Matterhorn schließen? In Nepal leben enorm viele Menschen vom Everest. Eigentlich lebt ganz Nepal nur vom Bergtourismus. Es wird so weiter gehen - auch wenn es vielleicht Signale gibt, dass man den Berg besser in Ruhe lassen sollte. Jetzt im Herbst sind schon wieder Expeditionen unterwegs. Und die Buchungszahlen für das nächste Jahr sind mindestens genauso hoch wie vor dem Erdbeben. Das lässt sich nicht aufhalten. Der Mensch will dahin, er ist fasziniert vom Everest, erst recht, wenn viel passiert.
Der Film "Everest 3D" wird weltweit neue Aufmerksamkeit auf den Mount Everest lenken. Welche Folgen hat das für das Leben der Menschen vor Ort?
Gute Frage. Der Film macht sicher viele Zuschauer neugierig auf Nepal und den Himalaya. Das wird sich bestimmt positiv auswirken, gerade weil auch die Trekkingreise Richtung Base Camp sehr schön dargestellt wird. Da könnte sich ein positiver Effekt entwickeln. Der Film weckt Interesse für das Land. Schon die Anreise zum Berg ist Teil der Faszination Everest: Nepal, die Menschen dort, das Nebeneinander von Hinduismus und Buddhismus. Das alles prägt schon den Trek ins Khumbu-Tal. Und dann taucht da plötzlich dieses Riesen-Dreiergestirn vor einem auf: Man sieht den Lhotse, den Nuptse und den Mount Everest. Schon beim Anblick dieser Riesengiganten verspürt man so etwas wie eine magische Anziehungskraft.
Quelle Text & Bild: http://www.n-tv.de/leute/Das-ist-wie-russisches-Roulette-article15930131.html
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